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Karl Heinz Haag »Kritische Philosophie«

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Der nun vorliegende letzte Band der »Dialektischen Studien« versammelt Arbeiten des zu Unrecht vergessenen Karl Heinz Haag. Haag begann in der jesuitischen Hochschule St. Georgen sein Studium und entwickelte sich nach dem ihm dort empfohlenen Wechsel zu Max Horkheimer zu einem dialektischen Gesellschaftstheoretiker, dessen Werk noch heute Geltung beanspruchen kann.

Mit dem vorliegenden Band schließt die 1988 begonnene Reihe »Dialektische Studien«. Ihr Begründer Rolf Tiedemann verwirklichte die Dialektischen Studien nach einem Konzept Theodor W. Adornos, das dieser nicht mehr realisieren konnte. Mit den Dialektischen Studien sollte, so Adorno, »eine Art centre de documentation für das entstehen, was man etwa unsere Schule nennen könnte, für die dialektische Theorie, die wir selbst vertreten und an der unsere begabtesten Schüler produktiv mitwirken.« Eine entscheidende Funktion war dabei, »der in Deutschland immer noch herrschenden Heideggerei sich entgegen[zu]setzen«.1

Die Dialektischen Studien konnten erst zwanzig Jahre nach Adornos plötzlichem Tod beginnen. Ob sie die damals intendierte Funktion erfüllte, darf bezweifelt werden. Das liegt weniger an der Reihe selbst, sondern am gesellschaftsgeschichtlichen Kontext. Heute gibt es keine deutsch-faschistischen Philosophen wie Heidegger oder Arnold Gehlen bzw. keine Nazi-Juristen wie Carl Schmitt mehr, die auch auf ihrem eigenen Terrain zu bekämpfen relevant wären. Heutige medial gestählte Stars der Geistesblitze präsentieren eine trübe, gesellschaftlich unbedeutende Suppe aus Kalendersprüchen (Richard David Precht) und gegenaufklärerischem Geseier (Peter Sloterdijk), das nur noch als »interessantes« Ornament zum Feierabend dient.

Dennoch soll dies den Verdienst der Dialektischen Studien nicht schmälern, das akademische Korsett des Geistes wenn nicht aufzusprengen so doch zu perforieren. Die dicht gewebten, satten Schriften Karl Heinz Haags sind ein würdiger Abschluss der Reihe. Nicht nur wird Haags 1960 erschienene und lange vergriffene »Kritik der neueren Ontologie« wieder zugänglich. Hinzu kommt die erstmalige Veröffentlichung von Haags Dissertation »Die Seinsdialektik bei Hegel und in der scholastischen Philosophie«, die er 1951 bei Max Horkheimer abschloss. Zwischen beiden um die hundert Seiten langen Abhandlungen sind vier Aufsätze versammelt, in denen Haag den ideologischen Gehalt der Philosophie reflektiert.

Günther Mensching pointiert die geistige Tätigkeit Haags folgendermaßen: »Zugleich traten [in Haags Darstellungen] aber die innere Brüchigkeit und Negativität des Hauptstroms des Denkens und der Geschichte so vor Augen, daß es schien, als ob die einzige Weise Philosophie zu betreiben und geistig zu leben, in der Negation der historischen Gestalten von Denken in der Einsicht ihrer Unmöglichkeit, bestehe. Darin hat er ein zentrale Motiv der Kritischen Theorie aufgenommen, deren Gründer zu seinem engsten Umgang gehörten.«2 In dieser Art der Reflexion sind auf vermittelte Weise, so betont Mensching, die »traditionellen Ideen von Wahrheit, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde, Solidarität und Glück«3 bewahrt.

Haag demonstriert in seiner Kritik an Ontologie, wie diese Bewahrung aussehen kann: »Man muß die Heiddergesche Fundamentalontologie als den Versuch bezeichnen, das Wissen einzuschränken, um für ein archaisches Denken Platz zu schaffen. Sie weiß gar nicht, ob ihre Lehre wahr ist, sie will es nur, weil es doch so schön wäre, eine Ordnung des Seins mit ‘Bindungen‘ zu haben! Sie glaubt es zuinnerst nicht. Indem sie versucht, die Wirklichkeit auf ein System archaischer Zeichen zu reduzieren, verhält sie sich der Realität gegenüber nicht ontologisch, sondern nominalistisch. Fundamentalontologie ist getarnter Nominalismus: willkürliche Begriffsbildung und darum noch relativistischer als das nominalistische Extrem: der moderne Positivismus. Wie dieser verkündet sie dem Individuum einfach, daß das Abstrakte für konkret zu gelten habe, daß es die Wahrheit sei. Sie dient so objektiv der Negation der Menschlichkeit.«4 Wie sehr diese Kritik noch lebt, zeigt sich auch daran, dass sie gleichermaßen die modischen postmodernen Theorien trifft. In ihnen verschwindet noch Wahrheit selbst als philosophische Möglichkeit, über die Haag sagte: »Philosophie wäre erst dann im Besitz der Wahrheit, wenn es ihr gelänge, die idealistische Verengung der res [Dinge] auf ihren Begriff zugunsten der inhaltlichen Bestimmung des noch nicht Begrifflichen aufzuheben. Konkrete Natur jedoch ist nicht unabhängig von der Artikulation, die sie in der Scheidung von Besonderem und Allgemeinem erfahren hat. Die Dinge artikulieren sich für den menschlichen Verstand, indem sie begrifflich fixiert wurden. Versucht man, wie der Nominalismus, den Begriff – der ein bloßer flatus vocis [Lufthauch] sein soll – zu eliminieren, so verwandelt die Welt sich in eine chaotische Mannigfaltigkeit.«5

In allen Reflexionen und Abhandlungen Haags finden sich Gedankengänge, die durch die populäreren Adorno und Horkheimer geradezu bekannt zu sein scheinen. Dies signalisiert, dass kritische Theorie der Gesellschaft nicht als philosophischer oder sozilogischer Kanon verdinglicht und in Lehrbücher aufgenommen werden kann. Vielmehr ist es eine Haltung zur Welt, die in die Art zu denken eingeflossen ist. Methodisch drückt kritische Gesellschaftstheorie sich als dialektische, aufklärende Kritik der Gesellschaft aus, die an gesellschaftlichen Phänomenen und ihren Zusammenhängen ihren Ausgangspunkt nimmt.

Im Gegensatz zu Horkheimer, dem wenigstens regelmäßig eine negative Grundhaltung nach 1945 (also nach Auschwitz) attestiert wird und Adorno, der als Kontrapunkt seines Freundes, in die Gründungsgeschichte der affirmativen Geistesgeschichte der BRD kanonisiert wird, ist Karl Heinz Haag weitgehend unbekannt. Er verstarb 2011.6 Der handwerklich hervorstechende, bibliophil gestaltete Band aus der edition text + kritik ist eine sich verneigende Würdigung dieses Gesellschaftskritikers.

Karl Heinz Haag, Kritische Philosophie. Abhandlungen und Aufsätze. Mit einem Nachwort von Günther Mensching, München 2012 (Edition text + kritik im Richard Boorberg Verlag), 273 Seiten, 34 Euro.

PS: Die zehn Bände der Dialektischen Studien sind geschlossen im Schuber zum Vorzugspreis von 120 Euro zu beziehen. http://www.etk-muenchen.de/sixcms/detail.php?id=568122&template=neu_werke_literatur

Anmerkungen

  1. Rolf Tiedemann, Notiz des Herausgebers, in: Karl Heinz Haag, Kritische Philosophie. Abhandlungen und Aufsätze. Mit einem Nachwort von Günther Mensching, München 2012, S. 271.
  2. Günther Mensching, Nachwort, in: ebd., S. 264.
  3. Ebd.
  4. Karl Heinz Haag, Kritik der neueren Ontologie, in: ebd., S. 93.
  5. Karl Heinz Haag, Das Unwiederholbare, in: ebd., S. 101.
  6. Selbst der FAZ-Rechtsaussen Lorenz Jäger, der einst beim ebenfalls vergessenen kritischen Theoretiker Heinz Maus (Heinz Maus war jüngst eine Konferenz in Marburg gewidmet: http://heinzmaus.wordpress.com/) in Marburg sein Diplom ablegte, warf Haag keinen Dreck hinterher.

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